Warum ich (nicht) schreibe. Flow, Sinn, Papierkorb
- Rolf Murbach

- vor 4 Tagen
- 2 Min. Lesezeit

Manchmal überkommt mich Schreiblust, auch wenn ich nichts zu sagen habe. Ich schrieb früher häufig Tagebuch, habe es später vernachlässigt und es dann wieder aufgenommen. Die Erfahrung ist immer die gleiche: Schreiben tut gut und bereitet Freude. Es löst etwas aus. Sinn stellt sich ein.
Und doch muss ich mich überwinden zu schreiben. Ich weiss nicht, woran das liegt. Es sind Ablenkungen, Interessen und Pflichten, die mich am Schreiben hindern.
Es ist paradox. Ich weiss, dass mir Schreiben guttut und tue es nicht. Vielleicht ist es wie mit dem Üben auf einem Instrument. Man muss es sich vornehmen und durchziehen. Das setzt Disziplin voraus – der Lohn: Erfüllung. Regelmässiges Schreiben stösst einen Prozess an. Die Voraussetzung: Zeitfenster.
Kurze Texte benötigen nicht viel Zeit, 10 Minuten, 20 Minuten genügen. Ich schreibe im Zug, in der Beiz, auf dem Schiff.
Bisweilen erfahre ich Widerstand. Ich weiss, das Schreiben würde sich gut anfühlen, doch wie beginnen? Es spielt keine Rolle. Mit grosser Wahrscheinlichkeit komme ich in den Text, stosse auf Spannendes, entwickle Gedanken, was bereichernd ist. Es geht immer darum: schreibend etwas erleben, einen Gedanken denken, in eine Geschichte eintauchen. Öffentlichkeit ist bei diesen Texten unwichtig. Im Gegenteil: Die Anonymität des Schreibens bedeutet Freiheit.
Ich habe in den letzten dreissig Jahren viel Tagebuch geschrieben und werde die meisten Texte nie lesen. Es waren ausschliesslich Texte für mich. Es ging um den Akt des Schreibens, ums Eintauchen in eine Sache oder Geschichte, im besten Fall um Flow. Wenn ich schreibe, bin ich in Kontakt mit mir. Deshalb schreibe ich. Das Gegenprogramm zum flüchtigen Surfen auf Social Media.
Natürlich gelingt das Schreiben nicht immer, laufen die Texte ins Leere, weil ich nichts zu sagen habe. Das fühlt sich schal und unbefriedigend an. Ich lass es dann und wende mich anderem zu.
Am einfachsten ist schreiben, wenn mich etwas umtreibt, beschäftigt, ärgert. Es schreibt wie von allein – sofern ich ehrlich bin. Das beschäftigt viele: Darf man alles schreiben? Und stimmt, was man schreibt? Ist es nicht andersrum? Und wie sehe ich die Sache morgen? Ich habe aufgehört, mir diese Fragen zu stellen. Ich schreibe und schaue, was geschieht. Der Satz von Frisch ist hier hilfreich: Sätze anprobieren wie Kleider. Was ich denke? Was ich meine? Ich wüsste das gern.
Was ist vor dem Text? Ein Gefühl, eine Enttäuschung, ein Bild. Indem ich schreibe, nähere ich mich dem an, was ist – was ich glaube, was sein könnte. Antworten, Erkenntnisse und Widerspruch. Durch das Schreiben erlange ich Deutungshoheit.
Oft braucht es mehrere Anläufe, um zu verstehen, um Erlebtes einzuordnen. Also schreibe ich mehrere Texte. Zum Beispiel: Ich ärgerte mich über Freunde, und klar, ich kann das hier nicht ausführen (Lob des Schweigens). Nur so viel: Ich frass in mich, was war, und verdaute schreibend. Das Gute: Ich beleidigte meine Freunde nicht, denn: Ich wäre in meinem Urteil, hätte ich es ihnen gegenüber ausgesprochen, masslos, verletzend und ungerecht gewesen. Mit dem Fortschreiten der Zeit und den Textvarianten erfuhr ich Milderung, Temperatursenkung, Gelassenheit und Perspektivenwechsel. Das Schöne am Schreiben: Man muss Texte nicht abschicken, veröffentlichen, kann sie für sich behalten oder vernichten.



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