Canetti, ein Harfenspieler und meine Mütze
- Rolf Murbach

- vor 5 Tagen
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Aktualisiert: vor 4 Tagen

Ich bin nach Luzern gefahren. Ich ging dem See entlang, alles war bekannt. In Rapperswil hatte ich gezögert: nach Luzern oder gleich aufs Schiff? Weshalb ich mich für Luzern entschieden habe, weiss ich nicht.
Aber es spielte auch keine Rolle. Beim Verkehrshaus stieg ich aus und schaute auf den See. Ein Schiff legte an. Ich war schon mit diesem Schiff unterwegs.
Die Sätze sollen kurz sein, dachte ich. Ja, kurze Sätze sind gut. Sie lesen und schreiben sich schnell, sind wie Geschosse. Aber dann hörte ich Canetti, lauschte seinen ausufernden und klaren Sätzen: zuerst Masse und Macht, dann den Anfang von Die Blendung.
Wie bin ich auf Canetti gestossen? Es ist immer Zufall. Ich hatte schon mal von dem Werk gehört, interessierte mich für das Phänomen Masse. Es tauchten auf: Gustave le Bon (Die Psychologie der Massen) und eben Canetti. Von einem Niederländer hatte ich ebenfalls ein Buch zum Thema gelesen, und es hat mich umgehauen. Das war nach der Pandemie. Keine Ahnung, wie der Autor heisst.
Als ich innehielt und mich auf eine Bank setzte, sass neben mir eine ältere Frau und las. Vor uns im scharfen Licht die Konturen des Pilatus und, ganz nah, ein Harfenspieler. Ich hörte ihm zu, die Musik war hell und klar, der Mann altertümlich gewandet. Er sass auf einem Hocker mit Samtbezug. Ein Edelmann am Vierwaldstättersee, in grosser Konzentration und Anmut ausstrahlend. Er versetzte mich in eine andere Zeit.
Nun war ich nicht mehr müde, und ich erinnerte mich ans Vergessen. Mir kam in den Sinn: Vor Jahren traf ich mich mit einem Mann, ebenfalls Schreibcoach, im Bistro Luz gegenüber dem Bahnhof. Ein nettes Lokal mit Terrasse und Blick auf Dampfer und Rigi. Es war Sommer. Wir unterhielten uns über das Schreiben. Das ist alles, woran ich mich erinnere. Ich weiss nicht, wie der Mann hiess, und habe keine Vorstellung davon, wie er aussah.
Ich wurde also meines Vergessens gewahr. Beunruhigte es mich? Ich war an diesem Herbsttag sehr gelassen, der See gleisste, und die Bäume schillerten rot und gelb. Vielleicht war es auch Gleichgültigkeit. Ich schaute aufs Wasser und zu den Bergen, sah die Kursschiffe, die halbverschneiten Alpen, hörte die Stimmen der Passanten.
Dann ging ich weiter. Ich fragte mich, wie ist es möglich, jemandem von einem Buch zu erzählen? In welcher Art sollte das erfolgen? Gesetzt den Fall, Freunde und ich würden uns treffen und von Büchern erzählen, was berichten? Ich hatte das Wichtigste über Canetti über Chat-GPT erfahren, mir einiges Wissen angeeignet, Eckdaten recherchiert, zwei YouTube-Videos gesehen, hatte also eine Vorstellung von Werk und Autor.
Entscheidend war das Lese- bzw. Hörerlebnis. Ich tauchte in die Texte ein, in Masse und Macht, ich schritt durch den Wald, am Tag zuvor am Zürichberg, und wurde in meiner Vorstellung selbst Teil dieser Masse, die Canetti so eindringlich beschreibt: ein Organismus, zuckend, schreitend, zurückhaltend, unerbittlich, fordernd und masslos. Es geht also beim Austausch darum, die eigene Leseerfahrung zu formulieren. Nur wenn ich mir einen Text zu eigen gemacht habe, mag ich ihn teilen.
Warum nur will ich das? Ich könnte das Buch beiseitelegen, es vergessen, wie ich den Mann im Luz vergessen habe. Etwas bleibt und löst sich dann doch auf. Zugegeben: Es stimmt mich nachdenklich, dass alles zerrinnt. Gleichzeitig ist es befreiend.
Der Zug schlingert, wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich den Zürichsee, Höhe Meilen wohl, das Wasser wie ein schmieriger Spiegel, ein Kräuseln ab und an, dann wieder ganz glatt. Über dem Pfannenstil schwebt ein milchiger Mond. Erst sahen wir ihn auf Sizilien.
Als ich am Nachmittag dem Harfenspieler lauschte, ereignete sich etwas Seltsames. Ich ging weiter, und da fand ich meine Mütze am Boden. Ich hob sie verwundert auf. Sie musste mir, als ich den Harfenspieler fotografiert hatte, zu Boden gefallen sein. Merkwürdig war nur, dass ich sie an einer Stelle fand, wo ich noch nicht war. Ich verstand nicht, wie das sein konnte.
Kommentar: Ich habe den Text auf der Rückfahrt von Luzern nach Zürich geschrieben. Ich hatte keine Vorstellung des Textes. Ich schrieb, wie ich oft schreibe: Schiff, Zug, ein Spaziergang. Ich-Perspektive. Mich ein wenig treiben lassen. Es flossen ein: Canetti, weil ich gerade das Buch hörte; die Erinnerung an eine Begegnung vor Jahren, weil ich in Luzern war; ein paar Gedanken über das Vergessen, weil mich wunderte, wie wenig ich über diese Begegnung erinnerte; das Reden über Bücher, weil mich beschäftigt: Warum sollen wir lesen, wenn wir doch generative KI haben; schliesslich die seltsame Episode mit meiner verlorenen Kappe. Der Ausflug wird durch das episodenhafte Erzählen erinnert und gestaltet. Es entsteht eine Art Erzählung. Den Text habe ich leicht überarbeitet.



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